Die professionelle Langzeitpflege steht bereits seit mehreren Jahren unter erhöhtem Druck: Prognosen bei konstantem Personalschlüssel sagen für die stationäre und ambulante Langzeitpflege einen Mehrbedarf an Vollzeitkräften von mehr als 30 % bis zum Jahr 2030 voraus. Nimmt man einen verbesserten Personalschlüssel an, steigt der Bedarf noch um ein Vielfaches. Gleichzeitig führt die Verknappung von Arbeitskraft tendenziell zur Verschlechterung der Arbeitssituation und zu Mehrbelastung. Ein deutlich überdurchschnittlich hoher Wert sowohl an Arbeitsunfähigkeitsfällen als auch an Arbeitsunfähigkeitsdauer verweist auf eine vergleichsweise hohe gesundheitliche Belastung der Beschäftigten in der Pflegebranche und dokumentiert die prekäre Situation. In der stationären und ambulanten Langzeitpflege tätige Pflegekräfte in Deutschland sind mit Anforderungen konfrontiert, die im internationalen Vergleich besonders hoch sind.
Körperliche aber auch psychisch-kognitive Belastungen, die sich u.a. aus der Organisation und Dokumentation von Arbeitsprozessen sowie inter- und intradisziplinärer Kommunikation mit an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen ergeben, werden wiederkehrend in Befragungen von Pflegekräften berichtet. Vor diesem Hintergrund werden bereits seit einigen Jahren verstärkt digitale Technologien für die Anwendung in der Pflegepraxis entwickelt und erprobt. Hierbei kann das Potenzial moderner Technologie dazu genutzt werden, die pflegerische Arbeit aufzuwerten, indem die Technologie standardisierte Routinetätigkeiten übernimmt und mehr Zeit für die Arbeit am Menschen bleibt.
Die Komplexität der Pflegekontexte und die Heterogenität innerhalb der Zielgruppen möglicher Nutzer*innen erschweren die Durchführung von Studien zur Evaluation der Nützlichkeit digitaler Produkte im Pflegealltag. Hinzu kommt die Tatsache, dass in den vorhandenen Studien die Wirkungsindikatoren variieren. Hinweise deuten aber darauf hin, dass die Pflegebranche im Vergleich zu anderen Sektoren als Nachzügler bei der Digitalisierung einzuschätzen ist. Während vor allem im Bereich der Dokumentation, Administration und Organisation durchaus digitale Anwendungen eingesetzt werden, sind Anwendungen zur Entlastung von repetitiven und regelgeleiteten Tätigkeiten im Pflegeprozess die auf Künstlicher Intelligenz (KI) basieren, bislang noch kaum als Produkte am Markt verfügbar.
Projekt ETAP
Das Projekt ETAP (Evaluation von teilautomatisierten Pflegeprozessen in der Langzeitpflege) entwickelt ein auf künstlicher Intelligenz (KI) basierendes Bewegungsmonitoring für pflegebedürftige Menschen und implementiert dieses in der stationären Langzeitpflege. Neben der Erfassung eines Sturz-Risiko-Screenings und zur Erfassung des funktionalen Mobilitätsstatus erfolgt auch eine Teilautomatisierung der dazugehörigen Dokumentation. Dazu werden Teile der Pflegedokumentation in Zusammenhang mit Sturzereignissen, Sturzrisiko und funktionaler Mobilität sowie Positionierungsprotokollen KI-gestützt und automatisch gefüllt.
Die Sensorbox (b) wird im Zimmer der pflegebedürftigen Person installiert. Wird ein Sturzereignis wahrgenommen (a), erfolgt eine Alarmierung oder Benachrichtigung, so dass eine Pflegekraft oder eine Kontaktperson weitere Maßnahmen veranlassen kann (c). Das Intelligente Pflegesystem dokumentiert das Ereignis und erstellt Reports, die bei Bedarf an weitere beteiligte Akteure weitergeleitet werden können (d-f).
Ein inter- und transdisziplinäres Konsortium untersucht aus Perspektive der Pflegewissenschaften, Arbeits- und Sozialwissenschaften, Gesundheitsökonomie, (Medizin)-Informatik und in enger Zusammenarbeit mit Praxiseinrichtungen der ambulanten und stationären Langzeitpflege ob und wie KI-Anwendungen zur Be- oder Entlastung von Pflegearbeit beitragen. Da Zielsysteme technisch unterstützter Arbeit für die erwünschte Realisierung einen Gestaltungsprozess voraussetzen, nimmt ETAP den Einführungs- und Veränderungsprozess als gleichermaßen sozial, organisatorisch, qualifikatorisch und technisch zu gestaltenden Prozess in den Blick.
In einem Co-Creation-Ansatz werden die Teil-Automatisierung von Sturzrisiko-Screenings und zugehöriger Dokumentation unter Beteiligung von Pflege(fach)kräften (P(F)K) in der stationären Langzeitpflege (LZP) implementiert. Ziel ist es, die Interaktion der P(F)K mit diesen KI-Anwendungen im Rahmen ihres Pflegealltags zu erproben, um Effekte auf ihre Arbeitssituation zu messen und den Nutzen im Rahmen einer soziotechnischen Systemanalyse (STSA) zu erheben. Kriterien zur Bewertung der Nützlichkeit, (Lösung eines Sachproblems) Nutzbarkeit (Lösung des Mensch-Technik-Interaktionsproblem) und Nutzung (Lösung von Akzeptanzproblemen) bilden zusammen den analytischen Rahmen für eine Nutzenbewertung. Dieses Konzept ist an pflege-, sozial-, arbeitswissenschaftliche und gesundheitsökonomische Analysen sowie an Gestaltungsperspektiven der Anwender gleichermaßen anschlussfähig. Die Weiterentwicklung bzw. Anpassung der eingesetzten Technologie erfolgt auf Basis der formativen Evaluationsergebnisse und in enger Abstimmung mit den Erfordernissen der Praxispartner.
Das Vorhaben wird unter kontinuierlicher Beachtung der einschlägigen forschungsethischen Prinzipien durchgeführt. Im Rahmen der ELSI Begleitforschung wird in Ergänzung zur unmittelbar von der Einführung berührten Gruppe der Mitarbeitenden, ein besonderes Augenmerk auf der Berücksichtigung der Rechte und Anlegen von Patient*innen/Bewohner*innen/Klient*innen liegen.
Das Studiendesign
ETAP ist als multiphasische, prospektive Mixed-Methods-Interventionsstudie mit einer Kontrollgruppe angelegt, die sich in zwei Hauptphasen unterteilt: In Hauptphase 1 von ETAP erfolgt die Integration und Weiterentwicklung der KI-Services im pflegepraktischen Arbeitsalltag entlang eines Co-Creation-Prozesses mit mindestens drei Feedbackschleifen. In Hauptphase 2 von ETAP erfolgt die längsschnittliche Evaluation der Be- und Entlastungseffekte des KI-Einsatzes in der Pflegepraxis im Rahmen einer prospektiven, quasi-experimentellen Interventionsstudie mit quantitativen und qualitativen Forschungsanteilen.